Vergebung

“Christen müssen alles vergeben!” Diese Aussage hat sich in den Köpfen von gläubigen Menschen festgesetzt – und Jesus hat sie in Seinem irdischen Leben scheinbar immer wieder bestätigt, indem Er Menschen, die zu Ihm kamen ungefragt ihre Sünden vergab. So hat Er dem Gelähmten, der von seinen Freunden zu Jesus getragen wurde, zuerst die Sünden vergeben, bevor Er ihn geheilt hat (Lukas 5,20).

Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass Jesus bei Seinem ersten Kommen einen einzigartigen Auftrag erfüllte. Er kam als “Lamm Gottes”. Sein Kommen war eine Rettungsaktion. Er wollte die Verlorenen retten, indem Er für sie am Kreuz starb. Bei Seiner Wiederkunft wird Er dagegen als Richter kommen. Zwischen diesen beiden Gegensätzen – Lamm Gottes, das für unsere Sünden starb und Richter der ganzen Welt, der auch in die Hölle werfen wird – leben wir heute. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, ob wir immer noch ein Spiegelbild seiner einzigartigen Gnade sein müssen, die Er in Seinem irdischen Leben gezeigt hat, ob wir uns wirklich bis zur Selbstaufgabe aufopfern müssen oder ob wir ein etwas differenzierteres Verhalten befolgen müssen.

Als Kinder Gottes müssen wir doch viel eher Seinem Wesen entsprechend handeln. Das bedeutet: Alle Menschen ohne Unterschied lieben – aber nicht automatisch vergeben. Wir müssen anderen die Vergebung nicht “wie ein billiges Werbegeschenk hinterherwerfen”. Das tut Gott selbst auch nicht.

Forderungen, die in eine Katastrophe führen

Ich behaupte: Die Aussage “Christen müssen alles vergeben”, ist theologisch falsch und führt menschlich in eine Katastrophe. Ein Opfer, das ständig alles vergibt, sendet dem Täter falsche Signale: Ich habe dir alles vergeben, deshalb ist alles in Ordnung. Der Täter hat keine Veranlassung, sein Verhalten zu ändern. Dazu ein Beispiel: In einer Gemeinde leidet ein Pastor ständig unter falschen Anschuldigungen einer Frau, die jedem, der es nicht hören will, erzählt, dass der Pastor Mädchen belästige oder das Geld aus dem Opferstock veruntreue. Was soll der Pastor tun? Vergeben und der Frau zeigen, dass alles in Ordnung ist? Die Frau hätte dann die Rechtfertigung weiterzumachen. Ein zweites Problem: Wenn von einem Opfer die Vergebung gefordert wird, es aber nicht vergeben kann, dann geraten wir schnell in eine Opfer-Täter-Umkehr, in dem das Opfer zum Täter wird, weil es als unversöhnlich bezeichnet werden kann.

Um das ein wenig deutlicher zu machen, sind hier zwei Fragen:
Würden wir von einer Frau verlangen, ihrem Vergewaltiger zu vergeben?
Würden wir von einem Vater erwarten, dem Mörder seines Sohnes zu vergeben?

Wie ungerecht können Menschen sein, wenn diesen Personen, die schon unglaubliches Leid erfahren haben, noch zusätzliche Vergebung aufgebürdet wird!

Als Beweis für die Forderung “alles zu vergeben” wird gern das Gleichnis vom ungerechten (oder erbarmungslosen) Knecht herangezogen (Matthäus 18, 21-35), das auch als “das Gleichnis vom Schalksknecht” bezeichnet wird. Petrus fragt Jesus, wie oft er vergeben müsse – reiche sieben Mal? Jesu Antwort: Nicht sieben Mal sondern siebzig mal sieben Mal – also unbegrenzt. Um seine Aussage zu unterstützen, erzählt er von einem Knecht, der seinem König eine unglaublich große Summe schuldet. Als er den König um Zeit bittet, “er würde alles bezahlen”, hat der König Erbarmen und vergibt ihm die ganze Schuld. Der Knecht dagegen ist seinem Mitknecht gegenüber, der ihm einen kleinen Betrag schuldet, nicht so gnädig.

Schritte zur Vergebung

Wir machen beim Lesen dieses Gleichnisses oft den Fehler, dass wir es “vom Ende her” lesen. Wir kennen den Schluss und die Aussage, die Jesus mit dem Gleichnis machen will. Deshalb überlesen wir gern die Mitte, also in diesem Gleichnis die Schritte, die in Jesu Geschichte der Vergebung vorangehen. Diese Schritte müssen wir beachten, bevor wir vergeben.

Erster Schritt: Schuld muss angesprochen werden

Stellen wir uns vor, der König ruft seinen Knecht und offenbart ihm: „Ich vergebe dir!“ Gegenfrage des Knechts wäre natürlich: „was denn?“ Wenn Schuld nicht angesprochen wird, weiß der Schuldige nicht, worum es eigentlich geht. Wer einen anderen von dessen Schuld überführen will, muss sie ansprechen.

Zweiter Schritt: Schuld muss anerkannt werden

Diesen Schritt überspringt Jesus. Das liegt daran, dass in seinem Gleichnis der Knecht seine Schuld bereut. Wer dies tut, hat die Schuld anerkannt. Stellen wir uns aber das Folgende vor: Der König rechnet dem Knecht seine Schuld vor, der Knecht erkennt sie aber nicht an. Er sagt: „Lieber König, deine Buchhalter haben dich an der Nase herumgeführt. Ich bin dir überhaupt nichts schuldig.“ Was soll der König dann vergeben? Nichts! Es gibt keine Schuld, die anerkannt wird, deshalb muss sie auch nicht vergeben werden.

Dazu hilft das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner (Lukas 18, 9–14). Das Gebet des Pharisäers ist sehr wortreich und lautet im Prinzip: „Gott, du musst ja eigentlich froh sein, dass du mich hast.“ Er spricht keine seiner Schulden an, sondern erklärt Gott nur, dass er doch ein richtig guter Mensch sei. Der Zöllner dagegen sagt nur einen Satz: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Er macht keine großen Worte, aber er bereut seine Schuld. Jesu Quintessenz: Dem Zöllner wurde vergeben, dem Pharisäer nicht.

Wenn jemand an mir schuldig wird und ich ihn darauf anspreche, kann es sein, dass er seine Schuld nicht anerkennt. Muss ich dann vergeben? Gott tut es nicht. Da wir wie gesagt, Spiegelbilder des Wesens Gottes sein sollen, müssen auch wir es nicht. Ich darf meinen Gott darum bitten, dass Er meinen Schuldner von seiner Schuld überführt oder – auch das kann sein – mir die Augen öffnet, dass ich selbst falsch liege.

Dritter Schritt: Schuld muss bereut werden

Nehmen wir an, der Knecht erkennt seine Schuld an, sagt aber: „König, das musst du verstehen. Meine Frau war unzufrieden, deshalb musste ich ihr einen Pelzmantel kaufen, das Dach von unserem Haus war undicht und außerdem muss ich fünf Kinder versorgen. Die Lebenshaltungskosten sind nun einmal so hoch.“ Das ist kein Bereuen, das sind Ausreden. Jesus sagt aber ganz klar: Kein Bereuen – keine Vergebung.

Lukas 17,3+4: „Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, so vergib ihm. Und wenn er siebenmal am Tag an dir sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so sollst du ihm vergeben.“

Jesus sagt ganz klar: „Wenn er es bereut“. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir nicht vergeben müssen, wenn der Schuldige seine Tat nicht bereut. Warum auch? Er meint ja, nicht schuldig zu sein.

Ein Beispiel für anerkannte aber nicht bereute Schuld gibt König Saul in 1. Samuel 13,8–14: Als er in den Krieg ziehen will, fordert Samuel, auf ihn zu warten. Weil die Zeit, in der Samuel erscheinen wollte, aber fast verstrichen war, übertritt Saul Gottes Gebote und opfert selbst. Es ist Königen nicht erlaubt zu opfern. Das dürfen nur die Priester. Das wurde Saul zum Verhängnis, weil er seine Schuld zwar anerkennt, aber als Erklärung nur Ausflüchte hatte („Meine Leute wären mir sonst weggelaufen“).

Einfach so vergeben – geht das?

Ich habe oben geschrieben, dass wir anderen nicht die Vergebung “wie ein kostenloses Werbegeschenk hinterherwerfen” müssen. Aber wir dürfen das tun. Manchmal ist das sogar eine gute Möglichkeit, sich selbst aus einem Teufelskreis von Hass, Verletzung, Streit und Leid zu befreien. Wenn wir Leidtragende eines rücksichtslosen und verletzenden Verhaltens sind, unserem Peiniger aber “einfach nur so” vergeben, ohne dass er das weiß, kann das ungeahnte Folgen haben. Man hat sich gedanklich und gefühlsmäßig von dem anderen gelöst. Die Taten bleiben, die Verletzungen aber bleiben aus. Häufig signalisieren wir dem anderen unbewusst: ‘Mach ruhig weiter. Deine Giftpfeile treffen mich nicht mehr, weil ich einen göttlichen Schutzschild um mich habe.’ Wenn der Angreifer das merkt, hört er von ganz allein auf. Hinzu kommt: Der andere wird seine Taten vor Gott rechtfertigen müssen. Diese Art der Vergebung heißt, die Rache Gott zu überlassen. Sie ist ein Selbstschutz und überlässt Gott das Feld.

Was wir nie vergessen dürfen

Jesus trägt uns ganz klar auf, Schuld unbegrenzt oft zu vergeben. Wenn jemand an uns schuldig wird und um Vergebung bittet, können wir nicht anders, als zu vergeben, wenn wir wirklich Gottes Kinder sind. Aber: Vergeben heißt nicht vergessen. Wir dürfen aus den Taten eines anderen unsere Konsequenzen ziehen. Jakob Tscharntke sagte einem Gemeindemitglied, das gegen ihn vorgegangen ist und ihn anschließend um Vergebung bat: “Vergeben kann ich dir, aber ich werde dir nie wieder vertrauen.” Das ist auch ein Selbstschutz, um nicht noch einmal “ins offene Messer zu laufen”.

Fazit

Ich nehme den Satz vom Anfang noch einmal auf: “Christen müssen alles vergeben”. Dazu sage ich: “Ja, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen.” Wir sind nicht dazu verpflichtet, immer und alles zu vergeben – vorausgesetzt, der Schuldige bittet nicht ehrlich um Vergebung. Tut er es, ist unsere Vergebung unsere Pflicht, weil wir Gottes Kinder sind und Gott ebenso handelt.

Die Fragen, die ich gestellt habe beantworte ich so: Natürlich muss die Frau ihrem Vergewaltiger nicht vergeben, genauso wenig wie der Vater dem Mörder seines Sohnes vergeben muss. Wir müssen auch den Politikern nicht vergeben, die den Corona-Terror eingeleitet und damit unzählig vielen Menschen unendliches Leid zugefügt haben. Auch muss Israel der Hamas nicht den Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 vergeben.

Das bedeutet aber nicht, dass Menschen, denen Unrecht angetan wurde, sich rächen dürfen. Rache ist uns verboten, denn Gott sagt: „Mein ist die Rache und die Vergeltung“ (5. Mose 32,35). Wer jetzt sagt: “Ja, aber Israel rächt sich doch!”, der muss die Äußerungen der Militärführung beachten: Ja, die Hamas bezahlt jetzt den Preis für den Terroranschlag. Es geht aber vor allem darum, diese Terrororganisation zu vernichten, um solche Anschläge in Zukunft zu verhindern und damit die eigene Bevölkerung zu schützen. Das hat nichts mit Rache zu tun, sondern damit, dass die Hamas die Konsequenzen für ihr Tun zu spüren bekommt. Es wird ja wohl noch erlaubt sein, die Mörder von fast 1.500 unschuldigen Menschen zur Strecke zu bringen. Auch König David musste die Konsequenzen seiner Sünde tragen, die er mit Bathseba beging. Gott hat ihm vergeben und damit die Sünde aus der Welt geschafft, David musste trotzdem die Konsequenzen seines Tuns tragen.

Vergebung hält die Liebe jung

Dürfen wir denn vergeben auch ohne diese drei genannten Schritte zu gehen? Das liegt in der Entscheidung eines jeden Einzelnen. Außer meinem genannten Beispiel, einem anderen “einfach so” zum Selbstschutz zu vergeben, kommt die wahre Vergebung unter Freunden, in Familien und natürlich auch unter Ehepartnern ständig vor.

Schuld wird stillschweigend vergeben und verziehen. Das liegt zum großen Teil daran, dass die Basis des Zusammenlebens die Liebe ist. Vergebung hält die Liebe jung!


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