Erwählung oder Entscheidung?

Wie kommt ein Mensch zum Glauben? Ausschließlich durch die Erwählung Gottes? Oder hat der Mensch auch eine eigene Entscheidungsmöglichkeit? Diese Fragen sind mittlerweile über 500 Jahre alt – eigentlich schon 2.000 Jahre, aber diskutiert werden sie erst seit der Reformation. Sie sind bis heute in der Christenheit ein Reizthema und werden sehr kontrovers diskutiert. Viele sehen hier nur ein “entweder – oder” und können die jeweils andere Ansicht absolut nicht tolerieren. Dabei muss ich klar stellen, dass diese Frage keine heilsentscheidende Wirkung hat. Können wir sie überhaupt beantworten? Oder müssen wir sie als „ungeklärten Fall“ abhaken?

Ja, ich weiß: Ich bin nicht im Besitz der ultimativen Wahrheit und habe nicht die absolute Erkenntnis. Was ich hier schreibe, kann deshalb nur Stückwerk sein. Was die klügsten Köpfe der Kirchengeschichte nicht lösen konnten, werde ich nicht in einem kurzen Artikel beantworten können. Trotzdem möchte ich dieses Thema versuchen zu klären, soweit es meine Fähigkeiten zulassen.

Mir geht es dabei vor allem um die Frage: Sind die Erwählung Gottes und Seine Gnade die alleinigen Auslöser für die Bekehrung eines Menschen? Oder kann der Mensch überhaupt etwas zu seiner Bekehrung beisteuern – und sei es nur die Entscheidung, ein “Ja” zu sagen?

Dazu müssen wir uns natürlich zuerst beide Seiten ansehen und die Bibel zu jedem Thema zu Wort kommen lassen. Die folgenden Bibelverse sind nur eine Auswahl zu jedem Thema. Sie geben aber dennoch gut wieder, was die Bibel zu sagen hat. Wir fangen an mit der …

Erwählung Gottes

4 Gott hat uns in Jesus auserwählt vor Grundlegung der Welt, damit wir heilig und tadellos vor ihm seien in Liebe.
5 Er hat uns vorherbestimmt zur Sohnschaft für sich selbst durch Jesus Christus, nach dem Wohlgefallen seines Willens.

Epheser 1,4+5

Gott hat die Menschen erwählt, die Er in Seinem Reich haben möchte – und nur die. Nicht alle wurden erwählt. Diese Erwählung hat bereits vor Beginn der Schöpfung stattgefunden. Gott kannte jeden Menschen bereits, bevor Er ihn schuf und hat einige dazu erwählt, in Seinem Reich und Seiner Gegenwart die Ewigkeit zu verbringen. Niemand kann dieser Erwählung widerstehen. Jeder erwählte Mensch wird sich zwangsläufig bekehren. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass kein Nicht-Erwählter sich bekehren kann – und falls er sich doch bekehren sollte, wird er seinen Glauben wieder verlieren. Das wird die „göttliche Prädestination“ genannt. Heute nennen wir diesen Glauben “Calvinismus”. Er basiert auf den Aussagen des Reformators Johannes Calvin, der ein Zeitgenosse Martin Luthers war.

Calvin schrieb die göttliche Prädestination 1559 in seinem Werk „Institutio“ nieder:

„Wir werden nie und nimmer so klar, wie es sein sollte, zu der Überzeugung gelangen, dass unser Heil aus dem Brunnquell der unverdienten Barmherzigkeit Gottes herfließt, ehe uns nicht Gottes ewige Erwählung kundgeworden ist; denn diese verherrlicht Gottes Gnade durch die Ungleichheit, dass er ja nicht unterschiedslos alle Menschen zur Hoffnung auf die Seligkeit als Kinder annimmt, sondern den einen schenkt, was er den anderen verweigert.“

Johannes Calvin 1559 in “Institutio III 21,1”

Calvin schreibt hier nichts anderes als dieses: Kein Mensch kann von sich aus zum Glauben kommen. Kein Mensch kann überhaupt irgendetwas zu seiner Bekehrung beisteuern. Der einzige Urheber und “Verantwortliche” unseres Glaubens ist Gott allein durch Seine Gnade. Dabei ist es allein Gottes Entscheidung, wen er erwählt und wen nicht. Der Mensch hat keinen Einfluss auf diese göttliche Entscheidung. Gerettete Menschen sind nicht etwas Besonderes oder besser als andere, sie wurden lediglich durch Gottes Gnade gerettet – und nur durch Gnade. Der Mensch hat keine Widerspruchsmöglichkeit.

Die reformierte Kirche hat deshalb “vier Soli”:

  • Solus Christus – Allein Christus
    Christus allein ist die Rettung für die Menschen. Ohne Christus kann niemand zum Vater kommen.
  • Sola Scriptura – Allein die Schrift
    Die Bibel allein ist ausreichend und enthält alle Aussagen zur Bekehrung eines Menschen. Weitere Texte sind unnötig.
  • Sola Fide – Allein durch Glaube
    Nur der Glaube eines Menschen kann ihn retten. Es gibt keine Werksgerechtigkeit – keine Taten, durch die wir uns den Himmel verdienen könnten.
  • Sola Gracia – Allein durch Gnade
    Nur durch Gottes Gnade werden wir gerettet. Der Mensch kann nichts dazu beisteuern.

Während ich persönlich die ersten drei “Soli” absolut unterschreiben kann, weil sie biblisch begründbar sind, kann ich das letze “Sola” nur mit einer kleinen Einschränkung akzeptieren. Das werde ich am Ende dieses Artikels in meinen Fazit versuchen zu erklären.

6 Denn ein heiliges Volk bist du für den HERRN, deinen Gott; dich hat der HERR, dein Gott, aus allen Völkern erwählt, die auf Erden sind, damit du ein Volk des Eigentums für ihn seist.
7 Nicht deshalb, weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker, hat der HERR sein Herz euch zugewandt und euch erwählt — denn ihr seid das geringste unter allen Völkern —,
8 sondern weil der HERR euch liebteund weil er den Eid halten wollte, den er euren Vätern geschworen hatte, darum hat der HERR euch mit starker Hand herausgeführt und dich erlöst aus dem Haus der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.

5. Mose 7,6-8

Gott hat also Israel ausgewählt, weil Er es liebt. Das war der einzige Grund. Israel ist nicht besonders herausragend oder etwa besser als andere Völker. Gott hat aus eigenem Antrieb Sein Volk erwählt. Deshalb hat Israel eine besondere Stellung unter allen Völkern. Weil Israel Gottes auserwähltes Volk ist, haben alle biblischen Prophetien Israel im Blick. Israel steht unter dem besonderen Schutz Gottes.

10 als Rebekka von ein und demselben, von unserem Vater Isaak, schwanger war,
11 als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten — damit der gemäß der Auserwählung gefasste Vorsatz Gottes bestehen bleibe, nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Berufenden —,
12 wurde zu ihr gesagt: »Der Ältere wird dem Jüngeren dienen«;
13 wie auch geschrieben steht: »Jakob habe ich geliebt, Esau aber habe ich gehasst«.
14 Was wollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne!
15 Denn zu Mose spricht er: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und über wen ich mich erbarme, über den erbarme ich mich«.
16 So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.
18 So erbarmt er sich nun, über wen er will, und verstockt, wen er will.
19 Nun wirst du mich fragen: Warum tadelt er dann noch? Denn wer kann seinem Willen widerstehen?
20 Ja, o Mensch, wer bist denn du, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch das Gebilde zu dem, der es geformt hat: Warum hast du mich so gemacht?
21 Oder hat nicht der Töpfer Macht über den Ton, aus derselben Masse das eine Gefäß zur Ehre, das andere zur Unehre zu machen?

Römer 9,10-21

Dieser Abschnitt ist recht deutlich und sagt, dass Gott Menschen geschaffen und sie erwählt hat (Gefäß zur Ehre). Alle anderen hat Er nicht erwählt (Gefäß zur Unehre). Deshalb ist Gott aber nicht ungerecht. Gott hat nur die Erwählten im Blick, die Seine Kinder sind. Die Nicht-Erwählten werden von Ihm zwar auch gesehen, aber nicht zu sich gerufen. Zu diesem Römer-Text passt ein Ausspruch Salomos aus dem Buch der Sprüche:

4 Alles hat der HERR zu seinem bestimmten Zweck gemacht, sogar den Gottlosen für den Tag des Unheils.

Sprüche 16,4

Salomo sagt hier das gleiche wie Paulus: Gott erschafft den einen Menschen für den Himmel, den anderen für die Hölle.

Fragen und Antworten

Kommen wir nun noch einmal zu den obigen Fragen und versuchen auf der Basis der “Erwählungstexte” eine Erklärung. Ich versuche einmal, mich in die Haut eines “Calvinisten” zu versetzen und diese Fragen von seiner Sicht aus zu beantworten. Calvin ist in seiner “Institutio” nicht auf das Schicksal der Nicht-Erwählten eingegangen. Er hatte nur die Erwählten im Blick.

Jeder calvinistische Prediger würde wahrscheinlich sagen, dass die Nicht-Erwählung lediglich die Abwesenheit von Erwählung bedeutet, wie Dunkelheit die Abwesenheit von Licht ist. Damit hat Gott nicht die Entscheidung für die Hölle der Ungläubigen getroffen, sondern lediglich den Himmel für die Erwählten.

Weil Gott den Erwählten einen Platz in Seinem Himmel schafft, ist er nicht ungerecht, nur weil die Nicht-Erwählten dort keinen Platz bekommen.

Mein Fazit

Ich muss dazu erwidern, dass man Gott unterstellen muss, nicht alle Menschen zu lieben. Wenn er auch die Nicht-Erwählten lieben würde, hätte Er sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Außerdem muss ich dann auch die Frage stellen, warum Gott überhaupt die Nicht-Erwählten geschaffen hat? Damit es spannender wird auf der Erde?

Calvinisten blenden komplett aus, dass Gott sehr bewusst entscheidet, wer zu Ihm kommen darf und wer nicht. Die Nicht-Erwählten haben dann eben Pech gehabt.

Wenn Israel allein von allen Völkern erwählt wurde, wurden alle anderen Völker nicht erwählt. Heißt das, dass dann nur Israel gerettet wird, alle anderen aber nicht? Was ist denn dann mit den Christen, die doch bekanntlich aus aller Herren Länder stammen und offensichtlich ebenfalls von Gott erwählt wurden? Die Erwählung des Volkes Israel wird übrigens von Calvin überhaupt nicht erwähnt.

Wenn ein Mensch nichts zu seiner Bekehrung beisteuern kann und sie nur einfach “über sich ergehen” lassen kann, weil Gott ja der einzig Aktive ist, muss ich mich auch fragen, ob die Erwählten nur Marionetten sind? Warum können sie dann überhaupt noch sündigen?

Soweit meine Einschätzung zu den Aussagen von Johannes Calvin und der Prediger, die ihm folgen. Nehmen wir uns einmal die Kehrseite vor, nämlich die …

Entscheidung des Menschen

4 Verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut, und erkennst nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?

Römer 2,4

Der Mensch ist als Gottes Geschöpf verpflichtet, Gott zu suchen und Ihn als seinen Herrn anzuerkennen. Das kann er aber nicht von sich aus. Ohne Gott wird das nicht möglich sein. Wenn Gott ihn nicht direkt anspricht und ihn zu Sich zieht, hat kein Mensch die Chance, sich zu bekehren. Das trifft auf Erwählte wie Nicht-Erwählte zu. Darauf werde ich später noch zurück kommen.

20 Sein unsichtbares Wesen, nämlich seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit Erschaffung der Welt an den Werken durch Nachdenken wahrgenommen, sodass sie keine Entschuldigung haben.
21 Denn obgleich sie Gott erkannten, haben sie ihn doch nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt, sondern sind in ihren Gedanken in nichtigen Wahn verfallen, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert.

Römer 1,20+21

Gott hat diese Welt geschaffen. Wer sich ein wenig mit der Schöpfung auseinander setzt und sich fragt, wie sie funktioniert, dem muss klar sein, dass es einen Schöpfer gibt. Ihm muss auch klar sein, dass dieser Schöpfer kein gewalttätiger und ungerechter Menschenhasser sein kann, sondern ein liebender und fürsorglicher Vater. Warum sonst hätte Er die Welt so perfekt, phantasievoll und schön geschaffen, wie sie ist?

9 Der Herr zögert nicht die Verheißung hinaus, wie etliche es für ein Hinauszögern halten, sondern er ist langmütig gegen uns, weil er nicht will, dass jemand verlorengehe, sondern dass jedermann Raum zur Buße habe.

2. Petrus 3,9

Hier haben wir einen mächtigen Gegensatz zu den obigen Versen der Vorsehung Gottes. Gott wartet auf jeden Einzelnen. Er ruft jeden “Komm doch zu mir”. Weil so wenige auf diesen Ruf antworten, lässt er die Gläubigen länger mit der Erfüllung Seiner Prophetien warten, damit auch die Ungläubigen die Chance haben, Gottes Ruf zu beantworten und sich bekehren oder ihn abzulehnen.

11 Sprich zu ihnen: So wahr ich lebe, spricht Gott, der Herr: Ich habe kein Gefallen am Tod des Gottlosen, sondern daran, dass der Gottlose umkehre von seinem Weg und lebe! Kehrt um, kehrt um von euren bösen Wegen! Warum wollt ihr sterben, o Haus Israel?

Hesekiel 33,11

4 [Gott] will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

1. Timotheus 2,4

Also: Gott will nicht, dass irgendein Mensch verloren geht. Alle sollen Ihn erkennen und Ihn als Herrn akzeptieren. Es ist unlogisch, dass Gott einerseits in den Himmel erwählt oder in die Hölle verwirft, aber gleichzeitig nicht will, dass jemand verloren geht. Wie passt das zusammen, wenn doch – so Calvin – Gott selbst dafür verantwortlich ist, dass jemand verloren geht?

Diese Verse reichen aus, um zu sehen, dass die Erwählung Gottes nicht der einzige Grund sein kann, warum ein Mensch gerettet wird oder verloren geht. Es muss auch die Entscheidung des Menschen eine Rolle spielen. Der Mensch muss also “ja” zu Jesus Christus und Seinem stellvertretenden Kreuzestod sagen. Das ist ja auch logisch, denn Gott hat den Menschen mit eigener Persönlichkeit und eigenem, freien Willen geschaffen. Gott will keine Maschinen oder Marionetten. Er will freie Menschen, die aus freier Entscheidung Ihn lieben, Ihm gehorchen und Ihm ihre Liebe zeigen.

Die Hölle war nie für den Menschen bestimmt

41 Dann wird er auch denen zur Linken sagen: Geht hinweg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist!

Matthäus 25,41

Wie bitte? Die Hölle ist bereitet dem Teufel und seinen Dämonen? Nicht für Menschen? Richtig. Gott wollte nie, dass irgend ein Mensch in die Hölle geht. Wir waren immer für das Leben bestimmt. Ein Gericht oder ewige Hölle hat Gott nie für uns Menschen vorbereitet. Er wollte schon immer, dass wir leben. Die Hölle war nur für den Satan und den Dämonen bestimmt.

Zwei widersprüchliche Aussagen in Gottes Wort …

Das ist jetzt schwer zu verstehen: Wie kann Gott einerseits Menschen vor Anbeginn der Zeit zum Himmel erwählen und damit andere Menschen für die Hölle bestimmen, aber andererseits nicht wollen, dass jemand verloren geht? Kann man das überhaupt vereinbaren? Mir ist bei diesen Gedanken folgender Ausspruch Gottes eingefallen, der vom Propheten Jesaja aufgeschrieben wurde:

8 Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr;
9 sondern so hoch der Himmel über der Erde ist, so viel höher sind meine Wege als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.

Jesaja 55,8+9

Gott ist der Schöpfer. Er hat uns Menschen erdacht und geschaffen. Wir sind Seine Geschöpfe und stehen deshalb weit unter Seinem Wesen und Seiner Intelligenz. Hier sagt Er, dass wir Seine Gedanken nicht nachvollziehen können. Es gibt in Seinem Handeln und Reden nun einmal scheinbare Widersprüche, die wir nicht verstehen können, aber trotzdem keine Widersprüche sind. Dieses Thema ist eines davon. Deshalb müssen wir diese Spannung aushalten und darauf vertrauen, dass Gott keine Fehler macht.

Der Apostel Paulus hatte mit diesen Gegensätzen überhaupt kein Problem. Ich habe oben Texte von ihm zitiert, die beide Seiten stärken. Im Römerbrief hat er Verse zu beiden Gegensätzen geschrieben. Ob Paulus einfach nur diesen Gegensatz verstanden und hingenommen hat oder er selbst eine Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch hatte, wissen wir nicht.

Ich persönlich lehne das calvinistische Denken ab. Der Gott der Bibel, den ich kennengelernt habe, hat alle Menschen im Blick. Er liebt alle Menschen. Vor etlichen Jahren gab es einen sehr schönen Spruch, mit dem manche Autos über die Straßen fuhren: “Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt”. Das bedeutet, dass Gott auch die Nicht-Erwählten liebt. Er will übrigens, dass auch sie sich bekehren. Einen wichtigen Vers der Bibel, der von Calvinisten gern “übersehen” wird, finden wir im ersten Brief des Apostel Johannes:

1 Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt! Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten;
2 und er ist das Sühnopfer für unsere Sünden, aber nicht nur für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.

1. Johannes 2,1+2

Jesus ist für die Sünde der ganzen Welt gestorben. Nicht nur für die wenigen, die Seinen Tod für sich persönlich akzeptieren. Ich kann nicht sehen, dass dieser Text anders zu verstehen ist, als er dort offensichtlich steht. Mich würden die Kommentare der Calvinisten zu diesem Vers interessieren.

Das Dramatische an der Aussage des Apostels Johannes ist: Jeder Mensch steht sündlos vor Gottes Thron am Ende der Zeit. Jesus hat für alle Sünden bezahlt. Die Nicht-Erwählten werden deshalb nicht wegen ihrer Sünde in die Hölle gehen, sondern weil sie nicht geglaubt haben. Sie haben Gottes Angebot abgelehnt.

… und ein Versuch der Lösung

Ich glaube nicht, dass wir diesen Widerspruch als “nicht lösbar” abhaken müssen. Ich denke vielmehr, dass es eine Möglichkeit gibt, diesen Widerspruch zu lösen, so dass wir Menschen ihn verstehen können. Meine Lösung mag vielleicht nicht punktgenau Gottes Denken treffen, aber sie ist ein Versuch, diesen Widerspruch für menschliches Denken verständlich aufzulösen. Ich möchte nun versuchen, im Folgenden beide Gegensätze zu vereinigen.

Lothar Gassmann hat einmal ein Bild beschrieben, um eine Lösung herbeizuführen: Alle Menschen stehen in einem Raum mit vielen Türen. An einer Tür steht der Name “Jesus Christus”. Geht ein Mensch durch diese Tür und dreht er sich um, dann sieht er auf der Rückseite der Tür: “Du bist erwählt”.

Dazu passt eine Lösung, mit der ich mir selbst diesen scheinbaren Widerspruch zu erklären versuche: Gott als Schöpfer von Zeit und Raum steht außerhalb der Schöpfung. Er ist deshalb zeitlos und kennt keine Zeit. Für Ihn sind Gegenwart und Zukunft gleichermaßen zu sehen. Aus diesem Grund konnte Er uns Prophetien geben, die lange Zeit, bevor sie eingetroffen sind, aufgeschrieben wurden. Etwa ein Drittel des biblischen Textes besteht aus Prophetie.

 9 Gedenkt an das Frühere von der Urzeit her, dass Ich Gott bin und keiner sonst; ein Gott, dem keiner zu vergleichen ist.
10 Ich verkündige von Anfang an das Ende, und von der Vorzeit her, was noch nicht geschehen ist. Ich sage: Mein Ratschluss soll zustande kommen, und alles, was mir gefällt, werde ich vollbringen.

Jesaja 46,9+10

Weil Gott also ohne Zeit ist, kannte Er die Zukunft eines jeden Menschen ganz genau, noch bevor dieser Mensch geboren wurde:

Deine Augen sahen mich schon als ungeformten Keim, und in dein Buch waren geschrieben alle Tage, die noch werden sollten, als noch keiner von ihnen war.

Psalm 139,16

Wenn Gott jeden einzelnen Tag jedes einzelnen Menschen kennt, bevor dieser Mensch überhaupt lebt, weiß Er auch, wer sich bekehren wird und wer nicht. Meine Lösung sieht deshalb so aus: Gott hat die Menschen erwählt, von denen Er wusste, dass sie sich zu ihm bekehren werden. Alle anderen hat er nicht erwählt, weil sie sich nie bekehren werden. Ihm wäre es das liebste gewesen, Er hätte alle Menschen erwählen können. Das war aber nicht möglich.

Dazu passt auch ein Ausspruch des Propheten Maleachi:

3 Ist nicht Esau Jakobs Bruder?, spricht der HERR. Dennoch habe ich Jakob geliebt, Esau aber habe ich gehasst; und sein Gebirge habe ich zu einer Wildnis gemacht und sein Erbteil den Schakalen der Wüste gegeben.

Maleachi 1,3

Warum hat Gott Jakob und nicht Esau erwählt? Hat Er zufällig die richtige Entscheidung getroffen? Nein, Gottes Entscheidungen basieren auf Seinem Wissen um die Zukunft. Er wusste, dass Jakob Ihm folgen würde und Esau nicht. Deshalb hat Er Jakob erwählt.

Damit haben wir eine Umkehr zur Prädestinationslehre von Johannes Calvin: Die Menschen bekehren sich nicht deshalb nicht zu Gott, weil Er sie nicht erwählt hat – Gott hat sie nicht erwählt, weil sie sich nicht bekehren. Hier werden also Ursache und Wirkung miteinander vertauscht. Damit steht die Entscheidung des Menschen im Mittelpunkt und ist für die Erwählung entscheidend. Aus diesem Grund ist Gott nicht ungerecht, weil er Menschen zur Hölle erwählt hat, sondern weil sie nicht an Ihn glauben. Dennoch ist die Gnade Gottes entscheidend. Und damit komme ich zum vierten “Sola” …

Sola Gracia – Allein die Gnade

Dieser Grundsatz ist natürlich richtig. Ich will ihm auch nicht widersprechen – zumindest nicht vollständig.

14 Sondern Gott redet einmal und zum zweiten Mal, aber man beachtet es nicht.
15 Im Traum, im Nachtgesicht, wenn tiefer Schlaf die Menschen befällt und sie auf ihren Lagern schlummern,
16 da öffnet er das Ohr der Menschen und besiegelt seine Warnung an sie,
17 um den Menschen von seinem Tun abzubringen und den Mann vor dem Hochmut zu bewahren,
18 damit er seine Seele vom Verderben zurückhalte, und sein Leben davon, in den Wurfspieß zu rennen.
29 Siehe, dies alles tut Gott zwei- oder dreimal mit dem Menschen,
30 um seine Seele vom Verderben zurückzuholen, damit sie erleuchtet werde mit dem Licht der Lebendigen.

Hiob 33,14-17 und 29-30

Die “Hauptlast” zu unserer Bekehrung trägt Gott. Durch Seinen Heiligen Geist werden Menschen zu Ihm gerufen. Wie wir in diesen Versen aus dem Buch Hiob lesen, gibt es im Leben eines jeden Menschen zwei oder drei Momente (manchmal auch mehr), in denen ein Mensch spürt: “Hier bin ich gemeint. Gott spricht zu mir. Jetzt muss ich mich entscheiden.” – und diese Entscheidung trifft er auch. Entweder er bekehrt sich zu Gott, öffnet Ihm sein Herz und nimmt Ihn als Herrn und Heiland an – oder er entscheidet “nichts”. Keine Entscheidung ist aber auch eine Entscheidung. Diese Entscheidung kann man nicht “auf die lange Bank” schieben. Sie muss sofort getroffen werden, denn sie kommt vielleicht nie wieder.

Irgendwann ist es vorbei. Dann fragt Gott nicht mehr. Damit geht dieser Mensch unweigerlich in die Hölle. Ein Beispiel dafür finden wir im zweiten Buch Mose: Der Pharao wird aufgefordert, das Volk Israel, das in Ägypten versklavt wurde, ziehen zu lassen.

Zuerst verstockt der Pharao sein Herz selbst (2. Mose 7,22; 2. Mose 8,11+15+28; 2. Mose 9,7+34). Danach verstockt Gott das Herz des Pharaos (2. Mose 9,12; 2. Mose 10,1+20+27). Gott gab dem Pharao Zeit, dem göttlichen Befehl zu gehorchen. Danach war Schluss. Gott selbst verstocke den Pharao, weshalb dieser sein Volk in den Untergang führte.

Wir lernen also daraus: Ein Mensch kann “ja” oder “nein” zu Gott sagen. Diese Entscheidung trifft er frei und unbeeinflusst von Gottes Willen oder Erwählung. Gott spricht mit Seinen Menschen – und zwar mit jedem Einzelnen. Jeder hat das schon einmal erlebt. Gottes Gnade für den Menschen ist, dass er mit uns spricht. Seine Gnade zeigt sich am freiwilligen und stellvertretenden Tod Seines Sohnes Jesus Christus am Kreuz. Dort wurden unsere Schulden beglichen. Wenn das keine Gnade ist, dann weiß ich nicht, was es sonst ist.

Ein Freund hat mir die Geschichte seiner Bekehrung erzählt: Er war in einem christlichen Vortrag. Am Ende wurde zur Entscheidung aufgerufen: “Wenn du Jesus folgen willst, komm nach vorne. Wir werden für dich beten.” Er spürte ganz deutlich: Jetzt muss ich mich entscheiden. Gott ruft mich. Gleichzeitig spürte er aber auch den Satan, der ihn zurückhalten wollte. Er war gefangen zwischen zwei Mächten und wusste, dass er jetzt eine Entscheidung treffen musste. Weil er allein nicht gehen konnte, bat er einen Freund, mit ihm nach vorne zu gehen. Als er aufstand, war die “satanische Bremse” gelöst. Er hat sich bekehrt und ist heute ein fröhlicher Christ. Das bestätigt, was ich behaupte: Gott ruft uns durch Seinen Heiligen Geist zu sich. Die Entscheidung, ob wir zu Ihm gehören wollen, treffen wir allein.

Ein wichtiger Rat

Ich hatte bereits weiter oben den Text aus Jesaja zitiert, in dem Gott uns klar macht, dass wir Seine Gedanken nicht nachvollziehen können. Deshalb kann mein Versuch, eine Brücke zwischen den gegensätzlichen Bibelaussagen zu schlagen, nur ein Versuch bleiben. Was unser Herr wirklich denkt, werden wir wohl erst erfahren, wenn wir ihn persönlich fragen dürfen. Wahrscheinlich hat Gott eine ganz andere Lösung zu dieser Streitfrage.

Dabei ist es natürlich wichtig, den Anderen stehen zu lassen. So lange er ein gerettetes Gotteskind ist, das den stellvertretenden Kreuzestod Christi für sich persönlich angenommen hat, können wir als Geschwister darüber diskutieren, ohne unsere eigene Meinung als absolut und als die einzig Richtige darzustellen. Mit anderen Worten: Wir dürfen darüber diskutieren, aber nicht streiten. Deshalb ist dieser Artikel lediglich ein Versuch, dieses Thema zu behandeln und dabei die biblischen Aussagen zu vereinen. Den eines ist klar: Gottes Wort hat keine Widersprüche oder Irrtümer.


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