Einer der Erzväter des Volkes Israel ist der Mann, der ihm seinen Namen gab: Jakob, der von Gott Israel genannt wurde. Nach seiner Flucht von Laban und bevor er seinem Bruder Esau begegnete, begegnete ihm Gott und kämpfte gegen ihn. Wie ich bereits im Artikel “Jesus im Alten Testament” beschrieben habe, hat der Sohn Gottes, Jesus höchstpersönlich, mit Jakob gekämpft. Jesus ließ Jakob gewinnen, verletzte ihn aber an der Hüfte, weshalb Jakob seitdem hinkte. Jesus nannte Jakob nach diesem Kampf “Israel”. Diese Geschichte wird uns im ersten Buch Mose erzählt (1. Mose 32,23-33). Hier wird auch klar, warum ich überzeugt bin, dass Jesus selbst gegen Jakob kämpft. Als Jakob nach Seinem Namen fragt, ist die Antwort lediglich eine Gegenfrage: “Warum fragst du nach meinem Namen?”. Nach diesem Ereignis und der Versöhnung mit seinem Bruder Esau kommt Jakob schließlich nach Sichem.
Der Weg nach Sichem
Jakob wurde durch List und Gottes Hilfe reich, als er bei Laban war. Mit großem Vermögen kehrte er heim zu seinem Vater Isaak. Nach seiner Rückkehr erbte er zusätzlich Isaaks Vermögen nach dessen Tod, was ihm einen unendlich großen Reichtum bescherte. Das sehen wir später, als Jakob vor dem Pharao stand und ihn segnet (1. Mose 47,7). Man muss sich das mal vorstellen: Ein Schafhirte segnet den Herrscher des mächtigsten Weltreiches der damaligen Zeit. Weil nur der Höhere den Geringeren segnen darf, niemals anders herum, sehen wir hier, dass Jakob selbst über dem Pharao stand. Jakob besaß aber noch kein Land, wie Gott es ihm gleich nach der Flucht vor Esau an der Himmelsleiter versprochen hatte:
13 Und siehe, der HERR stand über ihr und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks; das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinem Samen geben.
1. Mose 28,13
Als Jakob in Kanaan war, wollte er sich dort niederlassen, weil er Gott vertraute, das Land einmal zu besitzen:
17 Jakob aber brach auf nach Sukkot und baute sich dort ein Haus und errichtete für seine Herden Hütten; daher wurde der Ort Sukkot genannt.
18 Und Jakob kam wohlbehalten bis zu der Stadt Sichem, die im Land Kanaan liegt, nachdem er aus Paddan-Aram gekommen war; und er lagerte sich der Stadt gegenüber.
19 Und er kaufte das Grundstück, auf dem er sein Zelt aufgeschlagen hatte, von der Hand der Söhne Hemors, des Vaters Sichems, für 100 Kesita,
1. Mose 33,17-19
Der Sohn des Königs Hemor, Sichem, nach dem die Stadt benannt war, verliebte sich in Jakobs Tochter Dina und vergewaltigte sie.
2 Als nun Sichem, der Sohn des hewitischen Landesfürsten Hemor, sie sah, nahm er sie und legte sich zu ihr und tat ihr Gewalt an.
3 Und seine Seele hing an Dina, der Tochter Jakobs, und er gewann das Mädchen lieb und redete ihr zu.
1. Mose 34,2-3
Brautwerbung….
Sichem bittet Jakob um Dinas Hand. Er bereute wahrscheinlich sein Verbrechen und wollte es mit einer Heirat wieder gutmachen.Sein Vater Hemor bot Jakob an, in Sichem zu bleiben und seine Familie mit den Bewohnern von Sichem zu vermischen.
… und Ehrenmord
Dina hätte eine ehrbare Frau und Mutter werden können. Jakob und seine Familie hätten beginnen können, das Land zu besiedeln und in Besitz zu nehmen, hätten die Söhne Jakobs nicht seine Pläne durchkreuzt. Mit Hinterlist forderten sie von den Männern von Sichem, sich beschneiden zu lassen. Das ist tatsächlich die Voraussetzung, eine jüdische Frau zu heiraten. Jakobs Söhne hatten aber gar nicht vor, auf Hemors Vorschlag einzugehen. Nach drei Tagen waren die Männer durch die Schmerzen der Beschneidung so geschwächt, dass sie leichte Opfer waren. Die Söhne ermordeten alle Männer der Stadt und zündeten sie dann an.
Was war Gottes Plan?
Jakob stand sein ganzes Leben lang unter dem besonderen Schutz Gottes. Er bekam Erfolg und Reichtum, wodurch er sich nicht den Herrschern im Land unterzuordnen brauchte. Gottes Handeln zielte darauf ab, Jakobs Nachfahren das Land zu geben. Er versprach Jakob aber auch, dass er selbst das Land bekommen sollte. Trotz seines unermesslichen Reichtums war Jakob noch immer ein Fremder im Land und nur geduldet. In Sichem hätte er tatsächlich die Chance, heimisch zu werden. Aber sah Gott das auch so?
Einige Ausleger meinen, dass das Verhalten der Söhne Jakobs richtig war. Jakob sollte von den Bewohnern Sichems vereinnahmt und letztlich enteignet werden.
Wollen wir uns einmal die Argumente ansehen, die dafür aufgeführt werden.
Enteignung
Jakob sollte von den Bewohnern der Stadt letztlich enteignet werden. Die Ausleger, die dieses Argument anbringen, berufen sich auf den Vers 23. Hier besprechen sich Hemor und Sichem mit den Ältesten
23 Ihre Herden und ihre Habe und all ihr Vieh werden dann uns gehören; lasst uns nur ihrem Wunsch entsprechen, damit sie bei uns bleiben!
1. Mose 34,23
Die Ältesten hatten vor, Jakob und seine Familie durch Vermischung mit den Stadtbewohnern und Aufteilung des Vermögens zu enteignen. Mir ist allerdings nicht klar, wie das geschehen soll. In Israel (und auch bereits in Jakobs Familie) erhält nur ein Sohn das Vermögen. Es wurde nicht auf mehrere Söhne aufgeteilt. Die Töchter erhielten gar nichts. Das war der Grund, weshalb nur Jakob das Vermögen seines Vaters erhielt, nicht Esau. Wenn ein Sohn Jakobs heiratet, behält er das Vermögen, seine Frau bekommt nichts. Gesetzlichen Güterstand wie heute bei uns gab es damals nicht. Wenn eine Tochter aus der Familie einen Mann aus der Stadt heiratet, bekommt sie von Jakobs Vermögen nichts. Eine Enteignung durch Heirat scheidet also aus.
Vielleicht wollten die Stadtbewohner die Abgaben für die Nutzung der Weideflächen rings um die Stadt regelmäßig erhöhen, bis Jakobs Erträge nicht mehr ausreichten, um diese Abgaben zu bezahlen und er schließlich sein Vermögen verkaufen musste. Aber ist das logisch? Welchen Grund hätte Jakob dann noch gehabt, in der Stadt zu bleiben? Er war schon immer Nomade und würde dann eben sein Nomadenleben weiterführen. Die Stadt ginge dann leer aus.
Die Wahrscheinlichkeit ist doch wohl eher anders herum: Der Familie Jakobs hätte nach einiger Zeit die Stadt gehört. Sie wären die Führer in der Stadt geworden und hätten sie regiert. Jakob war reich genug, um die Stadt aufzukaufen. Auch seine Söhne waren geschäftstüchtig. Aus der Geschichte von Juda mit Tamar (1. Mose 38) erfahren wir, dass Juda sein eigenes Vermögen erwirtschaftet hat. Vielleicht nicht so groß wie das von Jakob, aber groß genug, um davon sich und seine Familie zu ernähren, denn er hatte eigene Herden.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass immer noch Gott über allem wacht, besonders über seinen Knecht Jakob, dem er schon vorher ein riesiges Vermögen gegeben hat. Wer also denkt,dass die Stadtbewohner Jakob übervorteilen und damit hätten enteignen können, hat die Rechnung ohne Gott gemacht.
Vermischung
Ja, die Töchter der Stadt zu heiraten oder auch die eigenen Töchter den Bewohnern der Stadt als Ehefrau zu geben, ist eine Vermischung des Blutes. Hier muss ich aber mal fragen: Wen sollten Jakobs Söhne denn sonst heiraten? Schwestern schieden aus, also blieben nur die Frauen des Landes. Aus der oben genannten Geschichte von Juda und Tamar erfahren wir, dass Juda eine Kanaaniterin geheiratet hat. Etwas anderes blieb ihm auch gar nicht übrig.
Wenn ein Mann aus den Heidenvölkern eine Jüdin heiraten möchte, muss er zum Judentum konvertieren. Sonst wäre eine Heirat nicht erlaubt. Anders herum das Gleiche: Die Frau, die von einem Juden geheiratet werden will, muss den jüdischen Glauben annehmen. Die Forderung der Söhne an die Männer von Sichem, sich beschneiden zu lassen, um die Töchter der Familie Jakobs heiraten zu können, war also richtig – auch wenn sie damit eine Hinterlist verfolgten. Auch später gab es im Volk Menschen aus aller Herren Länder, die an Gott glaubten. Wer das tat und im Volk leben wollte, musste ich beschneiden lassen und die religiösen Feste und Riten einhalten. Er wurde behandelt wie ein Israelit (2. Mose 12,48-49). Das Gleiche wäre dann auch den Stadtbewohnern geschehen.
Sie hätten ihren Göttern abschwören und sich Gott zuwenden müssen, Seine Gebote halten und Seine Feste feiern. Auch hier hätte Jakob mit seiner Forderung der Beschneidung die Bewohner der Stadt für sich selbst vereinnahmt. Sie hätten seinen Glauben annehmen müssen und hätten damit auch Gott gehört und wären ein Teil Seines Volkes geworden – mit allen Rechten und vor allem Pflichten. Die Gebote Gottes hätten auch für die Stadtbewohner gegolten, auch die Strafen bei Übertretung: Steinigung bei Ehebruch, Hexenkult, Homosexualität und Götzenanbetung. Ob den Stadtbewohnern das klar war, geht aus dem biblischen Bericht nicht hervor.
Tatsächlich entsprach das Angebot Hemors den Geboten, die Gott später Mose gab:
28 Wenn jemand ein Mädchen, eine Jungfrau, antrifft, die noch nicht verlobt ist, und sie ergreift und bei ihr liegt und sie ertappt werden,
29 so soll der Mann, der bei dem Mädchen gelegen hat, dem Vater des Mädchens 50 [Schekel] Silber geben, und er soll sie zur Frau haben, weil er sie geschwächt hat; er kann sie nicht verstoßen sein Leben lang.
5. Mose 22,28-29
Wenn ich das Verhalten der Urväter betrachte, frage ich mich, ob Gott Seinem Volk mit den Geboten etwas komplett Neues befohlen hatte. Abraham hatte bereits den Zehnten Melchisedek gegeben (1. Mose 14,20), auch Jakob versprach Gott, sein Einkommen zu verzehnten (1. Mose 28,22). Jetzt lesen wir von den Forderungen der Söhne an die Stadtbewohner, zum Judentum zu konvertieren, wenn sie sich mit Jakobs Familie vermischen wollen und Hemors Sohn Sichem musste für seine Vergewaltigung bezahlen und das Mädchen heiraten. So ganz neu waren zumindest viele Gebote nicht, die Gott dem Volk gab. Umso verwirrender ist das spätere Verhalten des Volkes, das ständig gegen Gottes Gebote verstieß.
Massenmord
Wir müssen auch die Tat Sichems ins Verhältnis der Strafe durch Jakobs Söhne setzen. Die Stadt wurde vernichtet wegen des Verbrechens eines einzigen Mannes. Das soll richtig gewesen sein?
Erinnern wir uns an die Geschichte von Ester, viele Jahrhunderte später. Haman ärgert sich über Mordechai, der ihm nicht den Respekt zollt, den er erwartet. Haman will als Strafe alle Juden vernichten. Das war falsch.
Es kann nicht richtig sein, dass der Massenmord an einer ganzen Stadt richtig war, aber der Massenmord an Juden falsch, weil ein einziger Mann falsch handelt bzw. ihm Falsches unterstellt wird. Nein, ich bin mir sicher, dass auch der Mord der Söhne falsch und ein Verbrechen war.
Was wäre geschehen?
Wie ich beschrieben habe, glaube ich nicht, dass das Verhalten der Söhne Jakobs richtig war. Ich glaube vielmehr, dass sie hier eine Chance vertan haben, sesshaft zu werden und das Land friedlich in Besitz zu nehmen. Die späteren Ereignisse sind meines Erachtens logische Konsequenzen des Massenmordes in Sichem. Gott wollte aus Jakobs Familie ein Volk machen, das Sein Eigentum ist und in dem Land in Ruhe und Sicherheit lebt. Da wäre der Wohnsitz in Sichem ein guter Anfang gewesen. Nun aber musste Gott einen anderen Plan verwirklichen. Um aus der Familie Jakobs ein Volk machen zu können, musste die Familie unter dem Schutz einer anderen Macht wachsen.
Josef und Ägypten
Die Lebensgeschichte von Josef ist (fast) einzigartig. Sie wird nur viele Jahrhunderte später von Daniel erreicht. Von seinen Brüdern als Sklave verkauft, im Gefängnis als Opfer der ersten “Metoo-Affäre” der Geschichte gelandet, wird er schließlich der Herrscher Ägyptens. Damit hat Gott die Möglichkeit geschaffen, damit das Volk Israel entstehen konnte. Ohne Sichem wären die Ereignisse um Josef, die Hungersnot und der spätere Umzug nach Ägypten nicht erforderlich gewesen.
Und was ist mit Passah?
Zugegeben: Der einzige Schwachpunkt meiner These ist das Passahfest. Ohne die Unterdrückung durch die Ägypter, die Plagen und schließlich der triumphale Auszug aus der Knechtschaft wäre Passah – zumindest in der heutigen Form – nicht erforderlich gewesen. Ohne Passah wäre alles, was damit in Verbindung steht, zumindest anders gelaufen:
- Das Passahfest ist die Befreiung aus der Knechtschaft und das Geburtsfest des Volkes Israel
- Jesus starb als das wahre Passahlamm zur Befreiung aus der Sünde
- Unser heutiges Osterfest, in dem wir den Kreuzestod Jesu und Seine Auferstehung feiern, ist eine Folge des Passahfestes
- Das Abendmahl ist für uns Christen das Erinnerungsmahl an den Kreuzestod Jesu und die damit verbundene Vergebung der Sünde.
Das sind aber nur meine menschlichen Gedanken. Gott ist klug, kreativ und weise genug, um zu Seinem Ziel zu kommen. Das Ziel – Jesu stellvertretender Kreuzestod zur Vergebung unserer Sünden – wäre in jedem Fall genau so geschehen.
Das ist meine Meinung, wie ich die Ereignisse in Sichem und die Folgen beurteile. Wie die Geschichte ohne den Mord an den Stadtbewohnern von Sichem gelaufen wäre, weiß nur Gott selbst.